Wir alle haben in unseren Leben überfordernde und überwältigende Situationen erlebt, die uns noch immer in den Knochen stecken. Vielleicht wurden wir als Kinder von einem Lehrer oder einer Lehrerin beschämt, weil wir etwas nicht konnten oder wussten. Dann wäre es gut möglich, dass wir heute, in unserem erwachsenem Leben, in Situationen, in denen sich unser Gehirn an das damalige Erleben erinnert fühlt, in Stress geraten. Unser Gehirn war bisher nicht in der Lage dieses Ereignis adäquat zu verdauen. Brainspotting kann bei einer heilsamen Verarbeitung helfen.
Brainspotting wurde von dem New Yorker Psychoanalytiker David Grand entwickelt. Während er mit EMDR experimentierte entdeckte er, dass die für diese Methode typischen Augenbewegungen seiner Klient*innen nicht unbedingt flüssig und kontinuierlich, sondern stockend, zitternd oder leicht springend verliefen. Er entdeckte, dass es immer eine haargenaue Augenstellung (Blickrichtung) gibt, die maximal mit einem jeweiligen belastenden Ereignis in Verbindung steht.
Während einer belastenden, überfordernden Situation macht unser Gehirn (metaphorisch gesprochen) eine Aufnahme vom schlimmsten Moment, dem sogenannten Hotspot.
In dieser Aufnahme werden alle vorhandenen sinnlichen Kontextfaktoren erfasst: z.B. visuelle Eindrücke (z.B. die Lichtverhältnisse, ein verächtlicher Gesichtsausdruck), die Geräusche (z.B. ein bellender Hund), die Gerüche (z.B. Schweiß), die Gefühle (z.B. Terror), die Körperhaltung und auch die Blickrichtung. Je überfordernder die jeweilige Situation für uns war, umso unverbundener (fragmentierter) sind diese Erinnerungsaspekte in uns abgespeichert. Durch Auslösestimuli (z.B. ein bellender Hund oder ein hochgezogener Mundwinkel) kann in uns eine emotionale Überflutung (z.B. von Schamgefühlen) ausgelöst werden, der wir uns hilflos ausgeliefert fühlen. Das traumatische Erleben findet keinen Abschluss, sondern steckt weiterhin in uns unverarbeitet fest. Es bestimmt weiterhin auf ungute Art unsere heutige Sicht auf uns selbst und die Welt.
Ganz offensichtlich sind die Augen mit ihren jeweiligen Blickrichtungen eine sehr potente therapeutische Eintrittspforte in das unverarbeitete, traumatische Erinnerungs-Wirrwarr. Interessanterweise sind sie in unserer embryonalen Entwicklung aus dem selben Keimblatt (Neuroektoderm) wie das zentrale Nervensystem entstanden. Das macht ihre (in jeder Hinsicht) große Nähe zum Gehirn nachvollziehbar. Während des schlimmsten Moment einer traumatischen Situation, wenn Kampf und Flucht keine Optionen mehr darstellen, wählt unser Nervensystem im Dienste des Überlebens den „Modus der Erstarrung„. Dieses Freeze passiert nicht nur in unserem Nervensystem und Bewegungsapparat, sondern auch in der Lebendigkeit unserer Augen. So erfährt die Blickrichtung im schlimmsten, traumatischen Moment ein Einfrieren.
Während die Klientin die Erinnerung des belastenden Ereignis im Bewusstsein hält, wird die Stellung der Augen (=Blickrichtung) gesucht, die Anzeichen von Freeze zeigen. An diesem Punkt (dem sogenannten Brainspot) werden implizite Erinnerungen in Form von (unangenehmen) Körperempfindungen, Bildern, Emotionen, Gedanken und anderen Sinneseindrücken aktiviert. Gehalten in der vertrauensvollen therapeutischen Beziehung, spürt die Klientin in achtsamer, nicht-bewertender Weise den Körperempfindungen nach und schenkt auch – von Moment zu Moment – dem anderen aktivierten „Material“ (Bilder, Gedanken, Emotionen) Aufmerksamkeit. Dies ermöglicht eine nachhaltige und andauernde Integration der traumatischen Erinnerungen: Für die Klient*in stimmt nun folgender Satz: „Es war zwar schlimm, aber nun ist es vorbei“.
Es eignet sich auch zur Anwendung bei: