Bei Menschen, die an Esssucht bzw. einer Essstörung leiden finden wir häufig eine Seite ihrer Persönlichkeit, die extrem fordernd und antreibend ist. Dabei werden die Bedürfnisse der anderen wichtiger als die eigenen erachtet. „Du darfst dich nicht abgrenzen, sonst machst du dich schuldig“ sagen verinnerlichte Stimmen. Bei all dieser Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme und Pflichterfüllung bleiben wichtige Bedürfnisse und Sehnsüchte unbeachtet. Das Gefühl, vollkommen in Ordnung zu sein, so wie man ist, sich geborgen, sicher und angenommen zu fühlen sind grundlegende Bedürfnisse. Die Beachtung dieser Sehnsüchte wird von der pflichtbewussten Seite nicht erlaubt.
Für Esssüchtige und Menschen, die an einer Essstörung leiden scheint das ersehnte Erleben nach Qualitäten wie Freiheit, Verbunden-Sein und Geborgenheit nur in Verbindung mit dem Essen möglich zu sein. Die Sucht ist also eine Strategie, den lebenswichtigen Bedürfnissen wenigstens auf Umwegen gerecht werden zu können. Die Möglichkeit, das ersehnte Erleben auch aus sich selbst heraus und in gelingenden Beziehungen mit anderen Menschen zu erzeugen, wird nicht gesehen. Achtsamkeitsbasierte Psychotherapie unterstützt, den alten Lösungsversuch zu würdigen und neue Wege, die einen geringeren Preis haben, in Betracht zu ziehen.
Solange die Überzeugung besteht, dass das ersehnte Erleben an das Suchtmittel gebunden ist, beängstigt die Idee der Aufgabe der Esssucht und der Essstörung zutiefst.
Wenn aber klar wird, für welche wertvollen Bedürfnisse die Esssucht bzw. Essstörung steht, können geeignetere Wege zur (Er-)Füllung des Mangels gegangen werden.
Das ersehnte Erleben ist schon in Ihrem Erfahrungsrepertoire gespeichert, wenn auch der Zugang zur Zeit schwer fallen mag. Im therapeutischen Kontext ist unsere Aufgabe, das bereits bestehende Potential wieder zum Leben zu erwecken. Mit Hilfe der Achtsamkeitsbasierten Psychotherapie können wir ein Steuer-Ich, die innere Regisseurin aufbauen, die die Bedürfnisse aller inneren Strebungen vernimmt, würdigt und für ein optimales Zusammenspiel sorgt, ohne sich dabei die Führung aus der Hand nehmen zu lassen. Erfahren die Betroffenen, dass ihre Sehnsüchte nach Leichtigkeit, Geborgenheit und Annahme wertvolle Bedürfnisse sind, die auch ohne impulsivem Konsum des Suchtstoffes erlaubt sind, wächst die Wahlfreiheit, den Verlockungen des Suchtmittels mit einem klaren „Nein“ zu begegnen.
Ängste, Depression und Trauma liegen häufig einer Esssucht bzw. einer Essstörung zugrunde. In diesem Fall kann das übermäßige Essen als eine Strategie der Eigen-Medikation gesehen werden, um die Ängste und Depression zu beruhigen.
Ich danke Gunther Schmidt für seine Inspiration.