Christoph
Millington
Internal Family Systems (IFS) basiert auf den bahnbrechenden Arbeiten des amerikanischen Familientherapeuten Richard Schwartz. Sie steht in der langen psychologischen Tradition, die von der Pluralität der menschlichen Psyche ausgeht (vgl. Ego State Therapie, Inneres Team nach Schulz von Thun). Dieses Konzept besagt, dass wir kein konsistentes Ich sind, sondern wie der Heidelberger Arzt Gunther Schmidt scherzhaft sagt, „einen ganzen Verein in uns haben.“ Schon Goethe lässt Faust sagen, dass er zwei Seelen in seiner Brust habe. Und Otto von Bismarck legt noch einen drauf, indem er gesagt haben soll: „Faust beklagte sich, er habe zwei Seelen in seiner Brust. Ich habe einen ganzen sich zankenden Haufen in mir.“ Jeder kennt die Erfahrung, dass es widerstreitende Strebungen in uns gibt: Ein Ich-Anteil möchte die schicken Schuhe kaufen, ein anderer Ich-Anteil findet es unnötig oder unvernünftig. Oder: Ein Ich-Anteil geht eilig am obdachlosen Bettler vorbei, während ein anderer Ich-Anteil sich über die eigene Herzlosigkeit beklagt.
Als Familientherapeut entdeckte Richard Schwartz, dass wir abhängig vom Kontext in verschiedene Ich-Zustände geraten. Je nach dem, ob wir uns z.B. gerade sicher, wertgeschätzt und zufrieden oder kritisiert, schief angeguckt oder abgelehnt fühlen, werden in uns andere Erlebens-Netzwerke aktiviert. Wir sehen dann zwar noch ähnlich aus, sind aber zu jemand anderem geworden (-: Wer kennt es nicht, dass wir unseren Partner anschauen und denken wir hätten den Traum-Mann oder die Traum-Frau schlechthin gewählt. Und nicht viel später (z.B. bei einem eskalierenden Paar-Konflikt) erleben wir ein Gegenüber, das wir aufgrund seiner „Schlechtigkeit“ förmlich nicht wieder erkennen. Der Partner zeigt eine völlig andere Seite, die mit der vorherigen wenig gemeinsam zu haben scheint. Beruhigend kann die Erkenntnis sein, dass diese „schwierige“ Seite nicht der ganze Mensch ist, sondern dass „das System“ des Partners von diesem Teil gekidnapped wurde.
Jeder Mensch trägt sehr viele verschiedene Seiten in sich, die wie kleine, echte, eigenständige Personen in uns, ihre eigenen Entstehungsgeschichten haben. Jeder einzelne Teil betrachtet die Welt durch seine eigene Brille auf eine spezifisch eingeengte (oder man könnte auch sagen: spezialisierte) Weise. Typisch ist, dass die Teile keine „Hier-und-Jetzt-Perspektive“ haben, sondern – z.B. als inneres Kind – in der Vergangenheit feststecken. Sie sind in der Zeit eingefroren, in der der jeweilige Anteil aufgrund von bedrohlichen Lebenssituationen entstanden ist. Jeder Teil verfügt einerseits über seine ursprüngliche Lebendigkeit und Kreativität und trägt andererseits seine erworbenen spezifischen emotionalen Lasten und schmerzhaften Überzeugungen (z.B. die Überzeugung der eigenen Wertlosigkeit des inneren Kindes). Richard Schwartz entdeckte, dass sich die inneren Anteile genauso wechselseitig beeinflussen wie Mitglieder einer Familie. Wechselseitiges Einfühlen, Wertschätzen und Anerkennen der verschiedenen Seiten, ihrer jeweiligen Bedürfnisse, Sichtweisen und Befürchtungen sind die Grundlage für ein friedlicheres und zieldienlicheres Miteinander in äußeren wie auch in inneren Systemen.
Es ist ungemein entlastend und erhellend, wenn problematische Eigenschaften und schmerzhaftes Erleben, verschiedenen inneren Anteilen zugeordnet werden können.
Nicht ich als ganze Person fühle, denke und verhalte mich problematisch, sondern nur ein Teil von mir (z.B. das sogenannte innere Kind). Diese Sichtweise eröffnet völlig neue Lösungsmöglichkeiten. Häufig sind wir mit bedürftigen, verletzten Anteilen verschmolzen. Dabei handelt es sich, wie gesagt, in der Regel um „jüngere Ichs“, die wir einmal waren und die noch immer in uns gespeichert sind (das innere Kind).Wenn uns ein solcher Anteil kidnappt, sehen wir die Welt durch dessen Brille, und dann stehen uns nur noch seine eingeschränkten Handlungsoptionen zur Verfügung. Wenn wir uns hingegen nicht kidnappen lassen, und stattdessen das Selbst (unser gesunder innerer Erwachsener) in Führung ist, sind wir im Kontakt mit dem vollen Spektrum unserer erwachsenen Kompetenzen. Genauso wie ein Orchester einen qualifizierten Dirigenten braucht, um es nicht zu einer Kakophonie, sondern Symphonie kommen zu lassen, so braucht das innere System das Selbst als innere Führungskraft. Mit dem Selbst ist die beste denkbare und erfahrbare innere Instanz in Führung. Damit sind wir in der Lage, die verletzlichen Anteile (syn.: das innere Kind) zu trösten, zu umsorgen und sogar zu heilen. So sind wir in der Lage, unser Leben kompetent, freudvoll und erfolgreich zu leben. In der „Systemischen Arbeit mit dem Inneren Familiensystem“ wird der Zugang zum Selbst wieder und wieder gebahnt.
Das Selbst
Richard Schwartz entdeckte in der Arbeit mit seinen KlientInnen eine innere „Instanz“, die kein Anteil ist. Er nannte es das Selbst. Das Selbst ist die innere Essenz, der seelische „Kern“ des Menschen, der durch Schicksalsschläge nicht verletzt werden kann. Es ist das „Immer-Heile“ und „das Echte“ in uns. Es ist erlebbar als Achtsamkeit, Klarheit, reine Präsenz, Mitgefühl, Weisheit, Liebe, Mut und Stärke. Das Selbst als die heile und heilende Instanz in uns erinnert an die Idee buddhistischer Traditionen, die dem Menschen „Buddha-Natur“ zuschreiben. Derweiteren steht das Selbst für alle gesunden, erwachsenen Ich-Funktionen, die es ermöglichen, ein gelungenes und erfolgreiches Umgehen mit den Herausforderungen des Lebens zu ermöglichen.
Bei dieser therapeutischen Methode wird wieder und wieder auf das Erleben des Selbst fokussiert und die Klientin ermutigt, aus ihm heraus mit den Teilen in Kontakt zu treten. Dies vermag wahre Heilung zu bringen. Das Selbst hat die Kraft und das Mitgefühl, mit inneren verletzlichen Anteilen fürsorglich zu kommunizieren. Es hat die Stärke und Diplomatie, strenge, harte und kritische innere Anteile aus ihren nicht mehr benötigten extremen Beschützer-Rollen zu entlassen, ohne dabei deren Kraft zu verlieren.
Die „Heilung des inneren Kindes“ ist in der Welt der psychologisch Interessierten ein beliebtes Konzept geworden und spielt auch bei dieser Methode eine überragende Rolle. Allerdings geht die IFS nicht nur von einem inneren Kind aus, sondern unterscheidet viele verschiedene innere Kinder. Jedes emotional bedeutende Ereignis in der Kindheit wird als eigenständiges neuronales Netzwerk gespeichert. Dieses ist durch entsprechende Auslösereize aktivierbar und ist das neurobiologische Korrelat des inneren Kindes. Außerdem gibt es „beschützende Anteile“. Es ist die Aufgabe dieser Beschützer (z.B. sehr kritische, fordernde, strafende oder antreibende innere Teile) das sich in Not befindende innere Kind in der Verbannung zu halten, um die Seele vor schmerzhafter Überflutung zu bewahren. Es braucht eine sich entwickelnde vertrauensvolle Beziehung zu den inneren Beschützern und die Wertschätzung ihrer guten Absichten, die Psyche vor dem Schmerz des inneren Kindes zu bewahren. Erst dann kann man im therapeutischen Prozess voran schreiten, um das innere Kind zu heilen. Heilung bedeutet für das innere Kind, mit seinen ursprünglichen Qualitäten von Lebendigkeit und Kreativität wieder in Kontakt zu kommen und zum Ausdruck zu bringen. (Vgl. auch: Stefanie Stahl, „Das Kind in dir muss Heimat finden“ und Luise Reddemann, „Psychodynymisch Imaginative Traumatherapie (PITT)“).
Die Wirksamkeit der Internal Family Systems beschränkt sich nicht auf bestimmte Diagnosen. Wenn innere Polarisierungen (Konflikte) aufgelöst werden, indem die einzelnen Teile sich untereinander besser kennen lernen und ihre gute Absichten begreifen, kommt es natürlicherweise zur Gesundung der Psyche. Auf diese Weise können Trauma, Ängste, Depression und Burnout geheilt werden.
Bei dieser therapeutischen Methode entstehen oft spontan vertiefte Bewusstseinzustände, die es ermöglichen mit der inneren Weisheit in Form einer reichen Bilderwelt in Kontakt zu kommen.